50 Jahre Zweites Vatikanisches Konzil
Das 50. Jubiläum der Konzilserklärung über die Religionsfreiheit kann nicht überschätzt werden. Hier hat sich die kath. Kirche fast 200 Jahre nach der Französischen Revolution zum modernen Verfassungsstaat bekannt. Dies ist nicht nur für die staatskirchenrechtlichen Strukturen in der Schweiz von grösster Bedeutung. Der moderne Staat ist von hier an nicht mehr "die böse Welt", sondern ein demokratischer Rechtsstaat, den man auch aus lehramtlicher Sicht bejaht. Es ist ein Meilenstein in der Kirchengeschichte. Karl Rahner schreibt dazu: Es ist «der Schritt vom Recht der Wahrheit zum Recht der Person». Damit wären die Grundlagen gelegt für die Menschenrechte in der Kirche, wie sie Paul VI. nach dem Konzil in einem Grundgesetz in Auftrag gegeben hat. Leider wurde dieser Verfassungsentwurf von Johannes Paul II. nicht in Kraft gesetzt.
Die Anerkennung der Personenwürde verändert das gesamtkulturelle Selbstverständnis des Katholizismus. So kam es zu neuen Verständnisweisen des kirchlichen Amtes, der Liturgie, der Offenbarung, der Gemeindepastoral, der Berufung der Laien, der Stellung der Frau, des gesamten Erziehung- und Bildungswesens usw. Gleichzeitig führte dieses andere Selbstverständnis der Kirche auch zur grundsätzlichen Anerkennung der anderen christlichen Bekenntnisse, der anderen Religionen und der säkularisierten, ja atheistischen Weltanschauungen. All dies war nur möglich, weil man davon ausging, dass jeder Mensch von Natur aus Person ist und daher in seinen Lebensentscheidungen unbedingt geachtet werden muss.
Kurz: Eine solche Wende zur Person und zu einem personalen Verständnis von Glaube, Kirche und Liturgie ist ein grundlegender Interpretationsansatz für die Theologie des Konzils. So entsteht eine dialogisch orientierte personale Sicht der Kirche.
Wie wurde das Verhältnis von personaler Freiheit und Wahrheit der Kirche vor dem Konzil gedacht? Die traditionelle katholische Lehre geht vom Primat der Wahrheit gegenüber der Freiheit aus. Nur die Wahrheit hat ein Recht der Irrtum hat keinerlei Recht. Welche institutionellen Konsequenzen hat das? Nur die Kirche als die Instanz, die konkret über die Wahrheit entscheidet, und diejenigen die ihr angehören, haben Recht. Das ist aber keine Rechtstheorie, sondern eine Machttheorie, und sie ist prinzipiell sozial unverträglich, so E.-W. Böckenförde.
Die Rechtsordnung dagegen ist allgemein. Thomas von Aquin betont darin die Gegenseitigkeit. «Alles, was ihr also von anderen erwartet, das tut auch Ihnen!» (Mt 7, 12) Mit dieser Goldenen Regel der Gegenseitigkeit beginnt auch die Kirchenrechtswissenschaft im Jahr 1140. Eine Maxime des Rechts gilt daher ihrer Natur nach allgemein, nicht nur für mich, sondern auch gegen mich. Ein Rechtsprinzip, dass die Gegenseitigkeit ausschliessen will, ist kein Rechtsprinzip mehr, sondern ein Machtprinzip. Dieses Akzeptieren der Goldenen Regel (Mt 7,12) im Recht verändert die Rechtstellung jeder Person in der Kirche.
Das Recht der Person tritt an die Stelle des Rechts der Wahrheit. Eine kopernikanische Wende ist eingeleitet. Anstatt des Zwangs, der unter dem Titel «Recht der Wahrheit» legitimiert werden konnte, wurde das personale Recht der Freiheit gesetzt, wie auch die Pastoralkonstitution betont: «Die Würde des Menschen verlangt daher, dass er in bewusster und freier Wahl handle, das heisst personal, von innen her bewegt und geführt, und nicht unter blindem innerem Drang oder unter blossem äusserem Zwang.» (GS 17).
Aber 50 Jahre nach der Verabschiedung der Konzilserklärung über die Religionsfreiheit ist diese Lehre von der personale Würde noch kein Allgemeingut in der Kirche. Die Tagung am 12. Oktober 2015 in der Universität Luzern will dazu beitragen.