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Toleranz und Religionsfreiheit

«Toleranz ist über die individuelle Haltung hinaus ein Staatsprinzip, eine Rechtspflicht, ein ungeschriebenes Verfassungsprinzip» (Karl Kardinal Lehmann).

Praktische Fragen rund um Toleranz und Religionsfreiheit spielen in der gesellschaftlichen Diskussion und in der Medienberichterstattung über Religion und Religionsgemeinschaften eine wichtige Rolle. Wie rasch wird «Toleranz» gefordert – und wie rasch wird sie faktisch in Frage gestellt, wo religiös motivierte Kleiderordnungen mit dem kollidieren, was bei uns als «normal» gilt. Wie schnell wird ein Gegensatz konstruiert zwischen den toleranten Gesellschaften im christlich geprägten Europa und als intolerant geltenden Staaten in anderen Teilen der Welt.

Angesichts dieser oft etwas plakativ geführten Debatten ist es ein Glücksfall, dass Kardinal Karl Lehmann, brillianter Theologe mit fundierten philosophischen Kenntnissen, langjähriger Präsident der deutschen Bischofskonferenz und deshalb auch profunder Kenner der Fragen rund um das Verhältnis von Staat, Gesellschaft und Religionsgemeinschaften ein auf öffentlichen Vorlesungen beruhendes Buch zum Thema veröffentlicht hat.

Spannend beschreibt er das Ringen um die Religionsfreiheit bis zur Aufklärung, den Streit um die Toleranz im 19. Jahrhundert und den Durchbruch zur Religionsfreiheit auf dem Zweiten Vatikanischen Konzil. Gründlich und zugleich gut verständlich formuliert er im Schlussteil eine normative Synthese, die auch nach dem Verhältnis von Wahrheit und Toleranz, sowie nach deren Grenzen fragt. Dabei wirft er auch die Frage auf, ob nur Mehrheiten oder auch Minderheiten zur Toleranz verpflichtet seien.

In Anlehnung an Otfried Höffe plädiert Lehmann für ein Toleranzverständnis, das über das blosse Tolerieren im Sinn von «Dulden» hinausgeht: Die aktive Toleranz lässt den anderen nicht bloss gewähren. Sie bejaht aus freien Stücken des anderen Lebensrecht, Freiheit und Entfaltungswillen. Allerdings setzt sie voraus, was mancherorts abhanden kommt: in der Lebensweise und den Überzeugungen ein eigenes Profil.

Leichte Kost ist es nicht, was Kardinal Lehmann seinen Leserinnen und Lesern zumutet – aber wer bereit ist, das gut 100-seitige Büchlein in Ruhe zu lesen, erhält gesunde Nahrung für innerkirchliche und gesellschaftliche Debatten. Das Buch ist ein hilfreiches Plädoyer für ein sowohl der Wahrheit als auch der Freiheit verpflichtetes Miteinander der Religionsgemeinschaften und Weltanschauungen in unserer vielfältigen Gesellschaft.

Karl Kardinal Lehmann; Toleranz und Religionsfreiheit. Geschichte und Gegenwart in Europa; 144 Seiten; Freiburg 2015.